Kalte Winter
Es wurde ein harter Winter, in dem wir Schlittschuhe
laufen konnten auf einem See, den es eigentlich nicht geben durfte. Noch im
Sommer hatten Kühe darauf geweidet, Schwarzbunte, eingezäunt in einen
Elektrozaun. Und ein Mutiger unter uns, Cornelius, hatte auf den Draht
gepinkelt, einen leichten Stromschlag abbekommen. Er war der Anführer, ihm galt
es nachzueifern. Ein anderer hatte es ihm deshalb nachgemacht, den Strahl zu
lange draufgehalten. Sein kleiner Schwanz hatte in der Sonne getanzt, dass es
eine Freude war. Schadenfroh schauten wir auf Adolph, der sich die Hose hielt.
Ansonsten waren die Ferien wie immer, Cornelius bestimmte, welche Spiele wir
spielten.
Dann war der Sommer vorbei, begann die Schule wieder, der
Herbst brachte Nebel und Regen, die Wiesen weichten auf, die Kühe sanken ein in
dem Morast und mussten eingesperrt werden in einen Stall, der sich auf einer
Anhöhe befand. In der Senke aber sammelte sich das Regenwasser, die Wiese
überschwemmte und auch ein etwas höher gelegenes Feld, das von dem Grasland
durch Weiden und Hecken abgegrenzt war. Es dauerte bis in den späten November,
bis Wiese und Feld sich zu einem gigantischen See vereinigt hatten.
Im Dezember kam der Frost, der diese graue Gegend in die
Zange nahm. Schon am ersten Morgen hatte sich Reif auf die restlichen Grashalme
gelegt, hatte die Weiden umschlossen, die ihre kahlen Äste wie hilferufende
weiße Hände in den Himmel reckten, der sich blau über uns wölbte. Bald begann
es zu schneien.
Dann geschah es, dass Cornelius verschwand. Das ganze
Dorf suchte verzweifelt nach ihm. Er war zwei, drei Jahre älter als ich und
einen Kopf größer. Trotz aller Anstrengung blieb er verschwunden, man fischte
sogar in der Güllegrube nahe des Kuhstalls nach ihm, suchte am Strand der
Ostsee, die zu jener Zeit noch nicht zugefroren war (Wochen später jedoch hätte
man zu fuß bis zur Insel Poel gelangen können, zumindest bis zur kleinen
Festungsinsel, die wie ein Wal vor dem Ostseeufer lag) und im Weiher des Dorfes.
Auch in der nahen Stadt hingen Vermisstenmeldungen aus. Cornelius blieb
verschwunden. Wir Kinder wurden nach unseren Verstecken gefragt, aber da hatten
wir selbst schon nach ihm gesucht. Weihnachten nahte, Cornelius' Eltern
feierten allein. Im Februar, als die Ferien begannen, hatten wir ihn schon fast
vergessen. Wir liefen Schlittschuhe auf dem neu entstandenen See, spielten
Eishockey, und erst wenn die sich reckenden Hände der Weiden nicht mehr zu
erkennen waren, trollten wir uns nach Hause und genossen die wohlige Wärme der
ofengeheizten Stuben. Aber wir waren Draußen-Kinder und sehnten uns zugleich
nach dem nächsten Morgen, der wieder ein winterklarer Tag werden sollte.
Niemand vermisste Cornelius. Einige von uns waren sogar froh, nun in der Hierarchie
aufsteigen zu können, die unser Kinderleben begleitete. Denn wir wussten es:
Cornelius war unser Anführer gewesen. Und nun begann ein harter Kampf um
seine Nachfolge, der nur auf dem Eis ausgefochten werden konnte. Deshalb
spielten wir Eishockey, als spielten wir um unser Leben, immer die weinenden
Weiden im Rücken. Die meisten von uns hatten keine Chance, zu den Siegern zu
gehören, also spielten wir am Rande eine Rolle. Trotzdem quälten alle die Kufen
der Schlittschuhe wie das Eis unter sich, ritzten Risse in die Häute, schlugen
die Schläger und den Puck, als gelte es alles. Es kam zu Schlägereien, von
deren Anlässen wir in den nächsten Sekunden nichts mehr wussten.
Der Winter währte lange in jenem Jahr. Als der Schnee
schmolz, der Aprilregen Dorf und Landschaft in Dunst und Nebel legte, dehnte
sich der See auf der Weide noch aus, gelangte er fast bis zum Kuhstall.
Sumpfdotterblumen blühten an seinem Rand sattgelb neben rotfarbenem Klee. Im
See jedoch waren Gräser und Kräuter ertrunken.
In dem sich anschließenden warmen Frühling und heißen
Sommer erlebten wir nur die salzige Ostsee, nahmen jedoch besorgt das Schwinden
unseres Schlachtortes wahr. Aber es blieb noch genügend Fläche für den nächsten
Winter, der ein trauriger wurde. Es fiel kein Schnee, nicht einen Tag. Zwar
fror der See auf der Weide noch einmal zu und wir konnten unsere Schlachten
schlagen, aber der Weg dorthin führte nun über Minenfelder voller
Maulwurfshügel, die sich bis an den Rand des Sees erstreckten, und der wenige
Reif, der sich morgens an die Grashalme presste, machte keinen wirklichen
Winter. Er verschwand auch, als hätte es ihn nie gegeben, sobald die Sonne ihn
fort warf.
Inzwischen hatte sich Adolph als Anführer durchgesetzt,
den wir akzeptieren mussten, obwohl er keine Ideen hatte, nur Muskeln.
Eishockey mit ihm zu spielen, war, als würde man rodeln gehen. Alles wurde so
vorhersehbar: Adolph bekam den Puck, Adolph schoss die Tore. Ich bekam immer
weniger Lust, zu unserem kleinen See zu gehen. Mit Cornelius war es schon
schwierig genug gewesen, einmal ins Spiel zu kommen, aber nun stand ich nur
verzweifelt am Rande. Die Weiden reckten immer noch ihre dünnen Hände gen
Himmel, schon fast vom Wasser befreit, die Thermometer zeigten immer noch
Temperaturen von unter 10 Grad, aber mich fror. Ich begann, den Winter zu
hassen, obwohl ich ihn liebte.
Dann wich der Reif, dann wich die Kälte. Jimmy Hendrix
hörten wir im Radio, all along the
watchtower, es war ein orgiastisches Erlebnis, eine Gitarre, die uns Tränen
trieb, und es wurde ein ungewöhnlich warmer Frühling, der früh einsetzte. Der
See auf der Wiese schrumpfte merklich, irgendwann blieb nur eine Pfütze, auf
deren Fläche wir im kommenden Winter kein Eishockey spielen konnten. Es waren
vielleicht zwei mal zwei Meter Wasser, an der tiefsten Stelle der Senke, Adolph
sah seine Favoritenstelle schwinden. Unsere Karriere als Eishockeymannschaft
schien vorbei. Plötzlich sahen wir die Leiche, die sich deutlich vom wieder
wachsenden Gras abhob. Er war ja nicht weiter gewachsen, sein Körper war fast
verwest, inzwischen waren wir fast genau so groß wie er und wussten, dass
Cornelius in dieser Pfütze lag. Sein Kopf war gespalten, offensichtlich verursacht
durch Schlittschuhkufen, denn die Einkerbungen durchzogen den gesamten
Hinterkopf in Doppelspuren. Wir mussten mehrfach über seinen Schädel gefahren
sein und hatten nicht einmal bemerkt, dass wir auf ihm Eishockey gespielt
hatten. Und man sah, dass sich nichts mehr unter den Knochen befand. Sein
Schädel war nur noch eine Höhle für Fische, aber in diesem Tümpel gab es keine.
Wenn es hier einmal Aale gegeben hatte, so waren sie beizeiten über die
feuchten Wiesen geflüchtet.
Es hatte etwas Komisches zu wissen, dass sich Cornelius'
Gehirn in Nichts aufgelöst hatte. Und auch die Macht, die er über uns ausübte,
als er noch lebte. Adolph stahl sich davon. Er wusste, dass auch seine Macht
schwand. Wir aber bekamen ein Leben danach.
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