Montag, 31. März 2014

Später Mond, aus: schneezu, 2013



Später mond


Durch halbzerrissene schleier
Dornbusch lukt.
Später planet, schamanenschrei
Der graugänse flügelschläge
Auf den nackten, gerupften leib.

Der ich im grase liege,
Hör nicht aufzieh’nden tag.

Später mond, mein zwischen
Silbern schimmernd
Eines schafes wolke als versteck.
Im grase äsen – süßes bilsenkraut einsamer
Herbstzeitloser glockenschlag,
Des morgensterns zirpen: schlaf,
Raunt müder mond,
Bis es dich weckt.

Sonntag, 30. März 2014

Irgendwann im Jahre 1993 entstanden ...



Hemingway im Dschungel seines orangefarbenen Mondes


»Das Seltsame war«, sagte er, »wie sie jede Nacht schrien. Das war ein gellendes Geräusch, und es ertönte stets pünktlich genau um Mitternacht. Als könnten sie die Uhrzeit am Stande des Mondes ablesen, der orangefarben am Himmel klebte. Uns, die wir unweit unser Quartier aufgeschlagen hatten, packte die Angst.« Der Mann am Tresen goss sich noch etwas Rotwein in das angeschmuddelte Glas, genoss es offensichtlich, dass seine Hörerschaft wie benommen schwieg.
Er war glücklich darüber.
»Wer?«, fragte ein Gast in die Runde. »Wer schrie?«
»Wesen«, antwortete er, »Wesen.«
Lange hatte es nicht mehr so viele Menschen in seiner Nähe gegeben, die zuhören konnten. Und deshalb, auch weil er sich nicht mehr genau erinnern konnte, verschwieg er ihnen, um was für eine Art von Tieren es sich gehandelt hatte, die da mitternächtlich im Dschungel so unheimliche Laute von sich gaben.
»Dann gab es da den Fall einer alten Dame«, schweifte er ab. Aber nur scheinbar, wie sich erwies. »Sie war wirklich schon sehr gebrechlich, und ihre Gelenke waren von Gicht gezeichnet. Sie war wie wir mit in den Urwald gekommen, um herauszufinden, was darin geschah. Die Alte blieb weit hinter uns zurück. Ihre alten Beine trugen sie schlecht. Und plötzlich soll sie sie gesehen haben. Unheimliche Kreaturen. Im Lager, leichenblass und starr vor Schreck immer noch, versuchte sie, jene seltsamen Wesen zu beschreiben. Ihre Beine verbogen sich auf die seltsamste Art und ihr Körper krümmte sich von der Taille aufwärts zusammen und wurde völlig starr. Ihr Kopf hing nach der linken Schulter herunter. Aus ihrer Kehle drang nun ein gellendes Schreien. Aber es war in seiner Art doch recht hilflos und ungeschickt.« Er unterbrach kurz seine Geschichte und schaute sehnsuchtsvoll dem orangefarbenen Mond zu, der an einer Fensterscheibe der finsteren Spelunke gleich einem Omelett hing.
»Und«, fragte ein Gast, den ich im Dunkel nicht erkennen konnte, »wer waren diese seltsamen Tiere?«
»Keine Ahnung«, sagte er, »nur diese alte Dame will sie gesehen haben, ich sagte es schon. Niemand sonst von uns. Nachts drauf sind wir wieder raus, aber niemand hörte sie mehr.« Unzufrieden gingen die Zuhörer wieder in ihre dunklen Ecken; setzten sich auf die angeschimmelten Stühle und schwiegen.
Mir hat es gefallen, ja. Das Ganze war hübsch. Auf mein Wort, richtig hübsch.

Samstag, 29. März 2014

aus: Von der kindhaften Farbe des Rittersporns



Idyll

am himmel war ein mond gewachsen
stillschweigend steuerte er zum zenith
und die huren heulten hinter neongeflitter
und auf dem heißen asphalt, wo
aus augenhöhlen nacht schaute.
zwei schwule polizisten, streifegehend,
verirrten sich im dickicht der großstadt
und zapften im schlund eines betonklotzes
einen hauch einsamkeit voneinander.
um flüchtige berührungen begab sich eine schwade
schweißgeruch, die in schwarze schächte floh.
und aus der kanalisation krochen kreischende
stimmen körperlos lustvoller ratten.
die riefen nach mir, der ich immer noch
suchte und irrte, ruhlos, und gierte: meinen weg
versperrte die mauer des friedhofs die mauer des lands.
am himmel war ein mond gewachsen,
stillschweigend steuerte ich zum zenith.
war ich kein mond, schwieg doch mein mund.
und mein schatten wurde schwächer und schwächer
und der mond wurde dunkler und dunkler: wie trügerisch
ist doch erinnerung. und flüchtig streichelte ich
mein gesicht: zwei polizisten kannten
sich plötzlich nicht mehr, und schwarze huren hatten freier
längst gefunden, stöhnten, hockend zwischen säulen.
und die nacht floh in meine augenhöhlen.
ich spürte meine streichelnden hände nicht mehr
auf der haut aus eis das neongeflitter
erstarb mit der dämmrung. und am himmel
war ein mond verschwunden und ich auf dem gehweg.
aber wo war ich. verstreichelt, verstrahlt
verliebt und verlebt. mit den hurenden polizisten.
dunkler und dunkler irrend.

                                           frühjahr/sommer 1990

Freitag, 28. März 2014

Ein Gedicht aus "Von der kindhaften Farbe des Rittersporns"



ode für muromez

auf meinem irdenen leib schlägt
mein stolzer rappe die hufe
aber wie viele winde verwehn sein wiehern
wie viele monde verschlucken sein lächeln
wie viele sonnen verbrennen das gras unter ihm.

deine nachtdunklen augen hielten den fall auf
für einen herzschlag nur: träfen sie mich
auf meiner reise ins nichts
und dein lächeln, das immer noch spöttisch
dir im gesicht hängt, zög mich
lächeltest du in meinen wasserleeren brunnen
inmitten der steppe dieses ausgebrannten lands
deine samtweichen hände streichelten mir
eine nie wieder alternde haut streichelten sie.
dein umhang aus nacht trüge mich fort
träfe ich dich in der steppe.
                                                    11.5.90

Donnerstag, 27. März 2014

Ein Uralttext, eine uralte Erinnerung, ein uraltes Leben ...





Blassgelbe Erinnerung



Da war plötzlich dieser Brief im Kasten. Ich dachte wieder eine dieser Werbeaktionen irgendeiner Lotterie. Oder ein Versandhaus, vielleicht, wollte sich still in Erinnerung bringen.
Der zweite Blick erst auf den dezent gedruckten Absender. Aus den Gehirnwindungen kroch langsam ein Name hervor. Und wie ist das, wenn sich wer aus den Abgründen der Vergangenheit zurückmeldet? Nichts, gar nichts ging in mir vor.
Mein Misstrauen verschwand, langsam, lautlos. Gelöst, entkrampft, bei einem heißen Tee, nach der flüchtigen Lektüre des Feuilletons – dem gierigen Suchen nach harmlosen Headlines – erinnerte ich mich des Kuverts auf der Konsole. Da war dieses Foto. Da waren diese wenigen Zeilen, da war dieses Erinnern. Da war diese Autobahn, plötzlich, wieder, kurz hinter Dresden, an der ich stand und wartete.
Da war dieser Abend zuvor in einem der wenigen Szenekneipen inmitten der City. Und danach die Suche nach einem Hotelzimmer. Das langweilige Warten im Vestibül. Und die Enttäuschung: Kein Zimmer mehr frei. Und diese Nacht dann in der viel zu engen Laube, mein Gott, wie waren wir da nur hingeraten? Und dieser schrecklich primitive, aber billige Fotoapparat. Und diese weiche, zarte Haut des Jünglings.
Zulange geschwiegen, zulange vergessen, zulange verdrängt jene letzte Nacht, in der keine Vögel sangen, weil es regnete, als käme die Sintflut der Neuzeit zuerst zu den Laubenpiepern dieses Vorortes.
Traurig war diese Nacht, und ihr schwarzer Umhang legte sich auch auf uns. Keine Kerzen brannten, und so verlor ich seine dunklen Augen mit der Zeit an das Dunkel. Und als wir Adressen tauschten wie Briefmarken am Morgen, wissend, einander nicht wieder zu sehen, war da so eine Sehnsucht in unseren Blicken. Und diese Beteuerungen, einander zu schreiben. Und diese kleinen Lügen, die der kommende Tag schon vergaß.
Vor zwanzig Jahren waren wir noch ein letztes Mal zum Hauptbahnhof gefahren. Zwei Jünglinge, die einander nichts versprochen hatten. Er war mit der Vorortbahn fort, ich mit dem Bus, bis kurz vor die Autobahn.
Und inzwischen hatten zweie gelebt. Irgendwo zwischen Rügen und Fichtelberg.
Nun dieser Brief aus Teneriffa, hatte er Umwege genommen, war meiner Biografie hinterhergeeilt:
Von der Sonnenseite ins überhitzte Berlin, und: In einer Woche käme der Jüngling, der kein Jüngling mehr war, gleichaltrig in Tegel an, und: Ich hätte doch gewiss ein Auto, ihn abzuholen.
Aber wohin, fragte ich mich. In die Zeit jenes Fotos führten ja doch keine Wege zurück.
(1993)