Donnerstag, 27. März 2014

Ein Uralttext, eine uralte Erinnerung, ein uraltes Leben ...





Blassgelbe Erinnerung



Da war plötzlich dieser Brief im Kasten. Ich dachte wieder eine dieser Werbeaktionen irgendeiner Lotterie. Oder ein Versandhaus, vielleicht, wollte sich still in Erinnerung bringen.
Der zweite Blick erst auf den dezent gedruckten Absender. Aus den Gehirnwindungen kroch langsam ein Name hervor. Und wie ist das, wenn sich wer aus den Abgründen der Vergangenheit zurückmeldet? Nichts, gar nichts ging in mir vor.
Mein Misstrauen verschwand, langsam, lautlos. Gelöst, entkrampft, bei einem heißen Tee, nach der flüchtigen Lektüre des Feuilletons – dem gierigen Suchen nach harmlosen Headlines – erinnerte ich mich des Kuverts auf der Konsole. Da war dieses Foto. Da waren diese wenigen Zeilen, da war dieses Erinnern. Da war diese Autobahn, plötzlich, wieder, kurz hinter Dresden, an der ich stand und wartete.
Da war dieser Abend zuvor in einem der wenigen Szenekneipen inmitten der City. Und danach die Suche nach einem Hotelzimmer. Das langweilige Warten im Vestibül. Und die Enttäuschung: Kein Zimmer mehr frei. Und diese Nacht dann in der viel zu engen Laube, mein Gott, wie waren wir da nur hingeraten? Und dieser schrecklich primitive, aber billige Fotoapparat. Und diese weiche, zarte Haut des Jünglings.
Zulange geschwiegen, zulange vergessen, zulange verdrängt jene letzte Nacht, in der keine Vögel sangen, weil es regnete, als käme die Sintflut der Neuzeit zuerst zu den Laubenpiepern dieses Vorortes.
Traurig war diese Nacht, und ihr schwarzer Umhang legte sich auch auf uns. Keine Kerzen brannten, und so verlor ich seine dunklen Augen mit der Zeit an das Dunkel. Und als wir Adressen tauschten wie Briefmarken am Morgen, wissend, einander nicht wieder zu sehen, war da so eine Sehnsucht in unseren Blicken. Und diese Beteuerungen, einander zu schreiben. Und diese kleinen Lügen, die der kommende Tag schon vergaß.
Vor zwanzig Jahren waren wir noch ein letztes Mal zum Hauptbahnhof gefahren. Zwei Jünglinge, die einander nichts versprochen hatten. Er war mit der Vorortbahn fort, ich mit dem Bus, bis kurz vor die Autobahn.
Und inzwischen hatten zweie gelebt. Irgendwo zwischen Rügen und Fichtelberg.
Nun dieser Brief aus Teneriffa, hatte er Umwege genommen, war meiner Biografie hinterhergeeilt:
Von der Sonnenseite ins überhitzte Berlin, und: In einer Woche käme der Jüngling, der kein Jüngling mehr war, gleichaltrig in Tegel an, und: Ich hätte doch gewiss ein Auto, ihn abzuholen.
Aber wohin, fragte ich mich. In die Zeit jenes Fotos führten ja doch keine Wege zurück.
(1993)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen