Am Dienstag auf dem Arbeitsamt
In
einer Reihe mit den Wartenden: Wo rutschte die Solidarität hin? Blicke kreuzen
sich hier nicht. Man starrt die Wände an, oder man befusselt seine Hosen. Hier
bist du nur eine Nummer, du gibst deinen Namen, sei er gut oder schlecht, dort
ab, wo du die Plastikmarke mit der eingestanzten Zahl abnimmst. Langsam
schleicht die Entpersönlichung voran. Du betrachtest noch einmal deine
Fingernägel: Dann spürst du es in den Knien: Sie werden weich, als wolltest du
dich von unten her auflösen. Ein sanfter Schmerz in der Hüftgegend. Dein
Geschlecht ist weder schlecht noch gut, du spürst nichts mehr. Ab Brusthöhe
bist du schon tot. Dein Kopf entleert sich, deine Gedanken fliehen aus einem
geöffneten Fenster des weitläufigen Flurs in die regenschwangere Welt.
Draußen
eilen einige Eilige vorbei. Sie halten die Trenchcoatkragen hoch, die Hüte,
Mützen, Regenschirme fest (ein düsterer Krimi 'a la Hitchcock: Wann taucht
Humphrey Bogart aus der Düsternis) Straßenbahnen quietschen vergnügt in den
triefenden Gleisen. Ungeduldige Trucker hupen einander zu.
Deine
Gedanken: Ob sie jemals zurückkehren werden? Du hast noch so viel Mut, mit den
Schultern zu zucken. Überhaupt dein Kopf. Er zwängt sich zwischen Schulter und
Schulter. Wärst du am liebsten draußen. Was geschähe, erkännte dich hier
jemand. Diese Blamage. Arbeitslos. Heruntergerutscht von der Erfolgsleiter.
Dein
Körper lehnt an einer weiß getünchten Wand. Du achtest, daß deine Kleidung sich
nicht färbt, als ein stark angetrunkener, leicht verwahrlost ausschauender Herr
mit Zigarettenstummel im rechten Mundwinkel auf dich zuwankt. Er hat den Gang
eines besoffenen Seemanns nach einem Orkan Stärke zwölf. Immer noch versucht
er, die heftigen Schwankungen seines Äppelkahns auszugleichen. Dein Herz
beginnt zu tosen. Will er dich anmachen? Will er dich aufmöbeln? Aufmischen,
zusammenschlagen? Aber der Seemann hat mit sich selbst und seinen
Koordinierungsschwierigkeiten zu tun. Kurz vor deiner Nase kriegt der die Kurve
und wandert weiter nach links. Dort, dicht neben dem Ausblick in die
trügerische Freiheit, befinden sich zwei Türen. Gleich neben dir verschwinden
die Nummern nach Aufruf, um kurz darauf sichtlich erleichtert wieder
herauszukommen und weiter zu warten.
Nun
entdeckt der schwankende Alte einen Bekannten. Aus dem geöffneten Mund preßt er
eine landläufige Begrüßungsformel und "Schweinerei". An drei Fingern
zählt er lallend ab: "März, April, Mai. Tausendfünfhundert Mark.
Verarschen. Faß auf." Der Bekannte schaut über den Kopf des Seemanns mit
der herabfallenden Unterlippe und der immer wieder aus der Mundhöhle
herausrutschenden Zunge. Ihm ist nichts peinlich. Er redet Kneipenjargon. Dir,
der du in der Nähe stehst und wartest, weht etwas wie Tabak-Rauch-Wodka-Muff
entgegen. Da trifft dich ein schielender Blick. Ein hilfloses Grinsen. Du
schaust gegen die weiße Wand. Keine Anmache, bitte. Aber jener, der seinem
Unbehagen gegenüber dem Bekannten genug Luft gemacht hat, glaubt jetzt die
Stunde gekommen. Bestätigung erheischend, blickt er auf ihn. Jener nickt. Da
faßt sich der schwankende Seemann ein Herz und reißt die Tür zu Anmeldung auf. "Mit
mir nicht", lallt er dabei. Du spürst, wie dir ein mitleidiges Lächeln ins
Gesicht wächst. Sichtlich erschrocken schaust du dich um: Erste Anzeichen von
Solidarität: Weitere Nummern lächeln. Die einen breit übers Gesicht, die anderen
verschämt in den Mundwinkeln. Da bemerkst du, wie sie alle neben dir dieser
Szene gelauscht hatten. Du fühlst dich schuldenfrei. Du fühlst dich
erleichtert. Ein schützender Nebel umgibt dich. Der lallende Herr kommt
rückwärts aus der Tür und schreitet die Front der Wartenden ab. "Gibt's
doch nicht. Wollen mich verhungern lassen. Schweine. Zeigen. Harke." Du
hörst "Nummer." Du hörst "Zimmer nebenan." Was passiert
hier.
Eine
ähnlich verwahrlost ausschauende Frau schwankt aus der Reihe der Sitzenden zur
Tür. Du hattest sie nicht bemerkt. Ein Keifen, ein Knuffen: Beide gelangen zur
selben Zeit an die Tür des Chefs. Der lallende Herr fegt die lallende Dame
beiseite. "Geld, Hunger, warten." Mehr hörst du nicht. Einige
Anwesende schlagen sich vor Freude auf die Schenkel: Die Entkrampfung der
Körper, der Geiste. "Nummer, warten." Dröhnt eine Baßstimme.
Der
wankende Körper mit dem Rest von Seele geht erstmal rauchen. Er wird nebenher
zur Nummer, indem er sich den Plastikchip holt. Seine Entpersönlichung
schreitet voran.
Langsam
machst du Erfahrungen. Hinter der Tür, preußisch, genau, fein, ordentlich,
deutsch wird deine Akte angelegt. Wieder darfst du warten.
Der
Betrunkene umschleicht die Türen zum Ausleben seines lautstarken Protests.
Schon merklich leiser geworden, fügt er sich: Er setzt sich ans nahe Fenster.
Er döst vor sich hin. Er hört nicht, wie seine Nummer aufgerufen wird, niemand
weckt ihn. Die Solidarität ist erstickt am Amtszimmermief.
Du
hast deine Nummer abgegeben: In dir wächst etwas. Dein Name wird aufgerufen. Du
gehst in ein Zimmer, dort beantwortest du Fragen. Dein alter Betrieb wollte
dich übers Ohr hauen. Statt wahrheitsgemäß als Kündigungsgrund
"gegenseitiges Einvernehmen" anzukreuzen, versuchte er, um eine
Zahlung des Siebzig-Prozent-Ausgleichs herumzukommen: Ja, ja, die Firma. Sie
hat sich nicht geändert. Immer noch ahnst du, die lila Königin kehrte zurück
aus Lobenstein. Dir werden persönliche Gründe und eigene Kündigung vorgeworfen.
So ist die Welt: Nämlich schlecht.
Als
du das Haus verläßt, schläft die Nummer siebenundzwanzig noch. Ganz
entpersönlicht, hat er die Füße weit ausgestreckt, der betrunkene Seemann, und
schnarcht friedlich. Niemand beachtet ihn mehr: Jeder ist bestrebt, seine
Identität wiederzufinden. Du fängst deine Gedanken wieder ein, du spürst ein
Pulsieren unten herum, deine Füße setzen sich schritt für Schritt auf den
Beton. Es ist alles in Ordnung. Du bist wieder Mensch, wie stolz das klingt.
(1990)
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