Montag, 7. April 2014

Aus: Die letzten Tage der DDR. Berlin: Edition Fischerinsel, 1990.



Am Dienstag auf dem Arbeitsamt


In einer Reihe mit den Wartenden: Wo rutschte die Solidarität hin? Blicke kreuzen sich hier nicht. Man starrt die Wände an, oder man befusselt seine Hosen. Hier bist du nur eine Nummer, du gibst deinen Namen, sei er gut oder schlecht, dort ab, wo du die Plastikmarke mit der eingestanzten Zahl abnimmst. Langsam schleicht die Entpersönlichung voran. Du betrachtest noch einmal deine Fingernägel: Dann spürst du es in den Knien: Sie werden weich, als wolltest du dich von unten her auflösen. Ein sanfter Schmerz in der Hüftgegend. Dein Geschlecht ist weder schlecht noch gut, du spürst nichts mehr. Ab Brusthöhe bist du schon tot. Dein Kopf entleert sich, deine Gedanken fliehen aus einem geöffneten Fenster des weitläufigen Flurs in die regenschwangere Welt.
Draußen eilen einige Eilige vorbei. Sie halten die Trenchcoatkragen hoch, die Hüte, Mützen, Regenschirme fest (ein düsterer Krimi 'a la Hitchcock: Wann taucht Humphrey Bogart aus der Düsternis) Straßenbahnen quietschen vergnügt in den triefenden Gleisen. Ungeduldige Trucker hupen einander zu.
Deine Gedanken: Ob sie jemals zurückkehren werden? Du hast noch so viel Mut, mit den Schultern zu zucken. Überhaupt dein Kopf. Er zwängt sich zwischen Schulter und Schulter. Wärst du am liebsten draußen. Was geschähe, erkännte dich hier jemand. Diese Blamage. Arbeitslos. Heruntergerutscht von der Erfolgsleiter.
Dein Körper lehnt an einer weiß getünchten Wand. Du achtest, daß deine Kleidung sich nicht färbt, als ein stark angetrunkener, leicht verwahrlost ausschauender Herr mit Zigarettenstummel im rechten Mundwinkel auf dich zuwankt. Er hat den Gang eines besoffenen Seemanns nach einem Orkan Stärke zwölf. Immer noch versucht er, die heftigen Schwankungen seines Äppelkahns auszugleichen. Dein Herz beginnt zu tosen. Will er dich anmachen? Will er dich aufmöbeln? Aufmischen, zusammenschlagen? Aber der Seemann hat mit sich selbst und seinen Koordinierungsschwierigkeiten zu tun. Kurz vor deiner Nase kriegt der die Kurve und wandert weiter nach links. Dort, dicht neben dem Ausblick in die trügerische Freiheit, befinden sich zwei Türen. Gleich neben dir verschwinden die Nummern nach Aufruf, um kurz darauf sichtlich erleichtert wieder herauszukommen und weiter zu warten.
Nun entdeckt der schwankende Alte einen Bekannten. Aus dem geöffneten Mund preßt er eine landläufige Begrüßungsformel und "Schweinerei". An drei Fingern zählt er lallend ab: "März, April, Mai. Tausendfünfhundert Mark. Verarschen. Faß auf." Der Bekannte schaut über den Kopf des Seemanns mit der herabfallenden Unterlippe und der immer wieder aus der Mundhöhle herausrutschenden Zunge. Ihm ist nichts peinlich. Er redet Kneipenjargon. Dir, der du in der Nähe stehst und wartest, weht etwas wie Tabak-Rauch-Wodka-Muff entgegen. Da trifft dich ein schielender Blick. Ein hilfloses Grinsen. Du schaust gegen die weiße Wand. Keine Anmache, bitte. Aber jener, der seinem Unbehagen gegenüber dem Bekannten genug Luft gemacht hat, glaubt jetzt die Stunde gekommen. Bestätigung erheischend, blickt er auf ihn. Jener nickt. Da faßt sich der schwankende Seemann ein Herz und reißt die Tür zu Anmeldung auf. "Mit mir nicht", lallt er dabei. Du spürst, wie dir ein mitleidiges Lächeln ins Gesicht wächst. Sichtlich erschrocken schaust du dich um: Erste Anzeichen von Solidarität: Weitere Nummern lächeln. Die einen breit übers Gesicht, die anderen verschämt in den Mundwinkeln. Da bemerkst du, wie sie alle neben dir dieser Szene gelauscht hatten. Du fühlst dich schuldenfrei. Du fühlst dich erleichtert. Ein schützender Nebel umgibt dich. Der lallende Herr kommt rückwärts aus der Tür und schreitet die Front der Wartenden ab. "Gibt's doch nicht. Wollen mich verhungern lassen. Schweine. Zeigen. Harke." Du hörst "Nummer." Du hörst "Zimmer nebenan." Was passiert hier.
Eine ähnlich verwahrlost ausschauende Frau schwankt aus der Reihe der Sitzenden zur Tür. Du hattest sie nicht bemerkt. Ein Keifen, ein Knuffen: Beide gelangen zur selben Zeit an die Tür des Chefs. Der lallende Herr fegt die lallende Dame beiseite. "Geld, Hunger, warten." Mehr hörst du nicht. Einige Anwesende schlagen sich vor Freude auf die Schenkel: Die Entkrampfung der Körper, der Geiste. "Nummer, warten." Dröhnt eine Baßstimme.
Der wankende Körper mit dem Rest von Seele geht erstmal rauchen. Er wird nebenher zur Nummer, indem er sich den Plastikchip holt. Seine Entpersönlichung schreitet voran.
Langsam machst du Erfahrungen. Hinter der Tür, preußisch, genau, fein, ordentlich, deutsch wird deine Akte angelegt. Wieder darfst du warten.
Der Betrunkene umschleicht die Türen zum Ausleben seines lautstarken Protests. Schon merklich leiser geworden, fügt er sich: Er setzt sich ans nahe Fenster. Er döst vor sich hin. Er hört nicht, wie seine Nummer aufgerufen wird, niemand weckt ihn. Die Solidarität ist erstickt am Amtszimmermief.
Du hast deine Nummer abgegeben: In dir wächst etwas. Dein Name wird aufgerufen. Du gehst in ein Zimmer, dort beantwortest du Fragen. Dein alter Betrieb wollte dich übers Ohr hauen. Statt wahrheitsgemäß als Kündigungsgrund "gegenseitiges Einvernehmen" anzukreuzen, versuchte er, um eine Zahlung des Siebzig-Prozent-Ausgleichs herumzukommen: Ja, ja, die Firma. Sie hat sich nicht geändert. Immer noch ahnst du, die lila Königin kehrte zurück aus Lobenstein. Dir werden persönliche Gründe und eigene Kündigung vorgeworfen. So ist die Welt: Nämlich schlecht.
Als du das Haus verläßt, schläft die Nummer siebenundzwanzig noch. Ganz entpersönlicht, hat er die Füße weit ausgestreckt, der betrunkene Seemann, und schnarcht friedlich. Niemand beachtet ihn mehr: Jeder ist bestrebt, seine Identität wiederzufinden. Du fängst deine Gedanken wieder ein, du spürst ein Pulsieren unten herum, deine Füße setzen sich schritt für Schritt auf den Beton. Es ist alles in Ordnung. Du bist wieder Mensch, wie stolz das klingt.

                                               (1990)

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