Donnerstag, 10. April 2014

aus: Jascha Dhal: Über den Durchgang in eine andere Wel. Berlin: Wasserturm Verlag 1994 (Blätter Heller Hoffnung 7)



einmal paris sehen und zurück

für michael und dagmar

deines. und meines. ich mache meine reise im kopf. du setzt dich in den zug. je suis. je vous. mein bilderbuch auf den knien. und meine bibel: wie erobert man eine stadt. erinnre dich davids. vor der burg zion. drauf und ran. glaub nur fest an dich: als dem sieger der schlacht. hinter dem panthéon. wo die leichen frankreichs leiden. wo die geister das lachen bekommen. stürme ich zion. im kopf. du nimmst die beine in die hand. blind und lahm. sehe den speer nicht, der mir den tod bringen wird. david gewann die burg zion. während die leichen um ihn gebreitet lagen. während die lahmen und blinden sich vor ihm versteckten: die heimlichen krieger. die überlebenden. sie werfen den speer aus dem hinterhalt. sie schießen mir mein geschlecht ab: getroffen. verwundet. vorm panthéon: dem friedhof der größten franzosen. so löst sich der rauch in rauch auf. der eroberten stadt. während die wunden verheilen. während die wunden verhallen. während die blinden und lahmen die stadt präsentieren. wirst du ihnen hinterher hinken. links ein lächeln von christian dior (30. avenue montaigne), hin zum place de vendôme. laß mich. die wunden der stadt sehn. endlich paris sehn. endlich land gewinnen. mit davids schlachtplan im kopf: drauf und dran. nur so erobert man eine stadt. stadtplan erinnerung: aus der geteilten, ummauerten, stacheldrahtverhauenen, umgangenen, gefluteten, unheiligen, umkämpften, belauerten stadt, berlin, hin zum nabel der weit. liberté, egalité, fraternité. wiege europäischer freiheit. paris. ich war schon immer franzose. russe. amerikaner. spanier, olé. mexikaner. deutscher. deutscher. deutscher. laß die blinden von paris erzählen, sanftmütig, lächelnd. vom besteigen des eifelturms. dem phallus der stadt. laß die verwundeten ruhn. sieh durch ihre augen. sieh madam vichy. kämpfend gegen den stadtplan davids. nicht mit eroberten waffen erobert man rom. und paris. nicht mit kanonen auf spatzen. laß nicht david von paris erzählen. er kennt nur seine schlachten und die zweitausend und aber zweitausendjährige erinnerung an das strömende blut der verwundeten und der toten. david kennt nur seine schlachten und die wenigen nächte nach der verheißung vom königreich seines samens: die eroberer sind sämtlich gestorben. laß nicht david erzählen. den alten könig der juden, den einer des reiches. dessen waffen im sonnenlicht gleißten. beim sturm auf zion, der stadt davids. laß die lahmen von paris erzählen. gemächlich. während ich im herbstlichen deutschen stadtpark auf der weißgestrichnen bank sitz. während wir noch denken unser leidiges land, das noch leidet unter den stiefeltritten, den schminkversuchen. den delegationen und delegierten. den stets roten ampeln auf der greifswalder straße. während du mit den blinden und lahmen paris abschreitest, wie der staatsmann die front. am flughafen. auf dem roten teppich. dreimal gehst du ums quartier latin. entziffernd die alten Inschriften. französisch. deutsch. deutsch. das verblichene foto der passante du sans-souci. in der nähe des königstors. oder woanders. wie sagten die daheimgebliebenen: grüß uns madam vichy. am quartier latin. während du niemanden kennst in der lebvollen stadt. grüß die superlangen Fingernägel bekannterweis. vergiß mir meine sehnsucht nicht. füge ich hinzu. vor der abfahrt. bitte zurücktreten. von der bahnsteigkante. während wir leiden an der kalten revolution. sitzt du auf dem beheizten trottoir. des bistros. und trinkst tee. mit rum. und baumelst mit den beinen. und bist am quartier. beim kulturzentrum. deines landes. das keinen text kennt. seiner nationalhymne. und endlich wieder seinen text kennt. um die ecke wohnt madame vichy. la passante du sans-souci. so denk ich sie mir. nach den beschreibungen. hinter der schönen fassade. ein freundliches lächeln. hast du dein fremdsein endlich überwunden. in der fremdhaltigen stadt. und du denkst noch: vichy. vamp. volière. die ulkigsten vögel: warum gerade ich. da klingelst du. bevor die große flügeltür sich öffnet: ein blick ins beschlagene glas. ulkiger vogel. gedenkend der langen fingernägel der madame vichy: guten tag. ich wollte am museumsstück der stadt paris nicht vorbeigehen. wie schafft sie es nur, die tür zu öffen. da endlich ein schnurren. französisch. je ne parle francais. schönen gruß aus berlin. ein freundliches lächeln. ein freundlicher talk. ein freundlicher kaffee. das ist sie also. das ist sie. ich hatte noch zeit: der zug geht in vier stunden. die tage sind schon kalt. in paris. auf beheizten trottoirs. vor den bistros. sitzen die männer. madame vichy zeigt ihre krallen. mordwerkzeuge. david ist fortgeblasen. davids schlachtplan. davids stadtplan. ausgelöscht. wie besiegt man eine stadt. in der man fremd ist: indem man menschen aufsucht. nicht memorials: nicht das panthéon. von den toten zu den lebendigen helden. von der einsamkeit in die einsamkeit. zehn dolche. harmlos eingezogen in der hand der frau. wo haben sie denn ihre krallen her. aber das sind so bilder. wie die junge frau im keller sitzt. der gestapo. eiskalten augs? für eine liebe. für ein zerbombtes land. nicht so heroisch. bitte. nicht davids manier. keine eroberung, bitte. zeig mir die instrumente, bevor ich gesteh. wie erobert man eine stadt. bevor der zug heimfährt. ein kalter blick der besatzer: madame! parlez-vous francais? je ne parle. dein blick reicht nicht soweit zurück. er reicht bis zur revolution: deren erinnerung unter strafe steht. der keller der gestapo. die leisen helden der geschichten. mach dich nicht lächerlich. wo haben wir das schon einmal gehört? die gefangenen von hohenschönhausen. die folterungen von timisoara. die schlachtungen von sibirien. was sind hundert jahre. im leben der menschen. ein wind. hauch vergeht. je ne parle. hinter der wand hör ich das schreien der gefolterten. das kleine blonde mädchen. hockt in der ecke. wenn sie sie jetzt holen. wenn sie sie jetzt anfassen. sie trägt ihre waffen. in der geballten faust. die handballen bluten. während sie das licht durch die türschlitze scheinen sieht. gleich holen sie sie. gleich fassen sie sie an. sie will sich wehren. sie ist ganz katze. sie sitzt auf dem sprung. fauchend. wild. sie wird ihnen die augen auskratzen. ich will die philister in deine hände geben, spricht der herr. das ist, als david die stadt zion belagert. david belagert paris. david gegen goliath. sein heldentum ist bis in die kleine zelle gedrungen. ich will die philister in deine hände geben. david ist auf dem sprung. das mädchen, das einmal madame vichy sein wird, sitzt in der ecke, geängstigt durch schwarzuniformen, deutsche eroberer. die werden jetzt heimgeschickt. ins reich. david vertreibt sie aus dem gelobten land. einen wird sie vernichten. mit ihren krallen: werd ich je wieder hier rauskommen, sollen meine fingernägel wachsen. und wachsen. bis sie von schüssen erwacht. auf dem sprung. fauchend. ist sie frei. gegen die vergangenheit. die festung erstürmt. der wehrgang genommen. der herr hat meine feinde vor mir voneinander gerissen, wie die wasser reißen. spricht david. und nennt seine stadt paris. und läßt die trikolore auf dem panthéon wehen. die waffen gestreckt. sieger. besiegte. nie wieder ohne waffen. wehrhaft. wahrhaft. und die waffen der vichy wuchsen. und sie wuchsen. die gegen die. das ist keine frage der deutschen. die verschwanden. die ließen nur ihre götzen zurück. und ihre bilder. und ihre bilder. gegen den tod vor der zeit gibt es die waffen: em pie und skalpell. und superlange fingernägel. mit dem lächeln der frau. du hast sie gesehen. wir haben gehört. unsere reise im kopf ist beendet. fahrplanmäßig. hält der zug. bahnhof zoo. friedrichstraße. david ist dort geblieben. sein schlachtplan aufgeschrieben. das zweite buch samuel. sein stadtplan im kopf. verworfen. das lächeln von christian dior verweht. madame vichy: die ist wie cognac. schärfe schmeckt aus dem magen. das ist paris. im kopf. gegen die keller und türme: garçon! je ne parle.
                                                                                                                                         1988

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