Mittwoch, 23. April 2014

Der Stein Asel

Der aselsche Stein

LASS UNS HEUTE NOCH, sagte jemand, über billy bragg reden. Und ich fühlte: Wieder so ein abend, zwischen den mauern und stimmen. Wieder so ein abend, der das sinnliche aus rotweinflaschen nährte (und dieses bild von der amme und von den brüsten. Und dieses bild). Ein leben nebel. Ein nebel leben. Und ich fühlte eine unendliche müdigkeit. Eine, die, ich ahnte es nur, nicht aus der müdigkeit des fleisches herrührte, sondern aus der müdigkeit der seele kam. Warum, verdammt, kroch nur die müdigkeit aus dem bauche, über den rücken, der allmählich zu schmerzen begann, hin in den kopf?
Indien-Indianer. Die stadtindianer füllten die gläser. Einer, so ein bärtiger, von dem ich glaubte, Ihm irgendwann in meinem leben schon einmal begegnet zu sein, schwelgte im erinnern des KAMASUTRA.
Und ich wusste plötzlich, dass Er damals noch keinen bart getragen hatte, auf dem feld der genossenschaft: Da waren steine, groß wie felsen, die wir, die vierzehnjährigen, die sich einige groschen verdienen wollten, allein nicht zu bewältigen glaubten. Und damals, in jenem frühjahr, als die welt uns noch in der ordnung erschien, die fehler der zukunft  noch nicht ahnbar waren, damals, als die macht unsere gewohnheiten noch nicht erobert hatte, als das wort noch unschuldig gewesen, das wort zweier halbwüchsiger, jeder an einem ende des steins (- oh, sysyphus! - und nur der stein zwischen uns); hatte ich das erstemal so ein herzklopfen, das mir fremd, aber angenehm war. Und ich fühlte eine leichtigkeit und ein staunen, welche das sammeln von steinen gewöhnlich nicht hervorbrachte, mir's dieses mal zu erträglichen last, ja, lust werden ließ. Das sammeln von steinen. Ein banaler, geradezu profaner vorgang. Nutzlos wie nichts auf der welt. Aber mir sangen die vögel, mir schien die sonne, mir klangs wie musik in meinen ohren, sanft getragen von einer wolke wurde der stein zum luftschloss.
Und mit vereinter kraft hatten wir beide den jungen felsen auf den hänger geworfen. Und dieses lächeln danach. Ein erkennendes lächeln. Ein lächeln, das uns forttragen sollte über das staubige feld an den weidenumrahmten pfuhl, den wir teich nannten, denn es gab damals nur teiche und seen und das meer: für einen see zu groß, für einen teich zu klein, rest einer zeit, als das eis vom norden her über die landschaft gezogen war und tiefe löcher in die haut der erde gerissen hatte beim zurückweichen vor jener kraft, die auch ich fühlte in diesem moment: wärme, galt uns der pfuhl als ruhige insel inmitten des meers aus staub  und steinen und ockerfarbener erde. Auf seinem wasser spiegelte sich der himmel, die zweige der weiden hatten zartes grün angesetzt und tanzten über den winzigen wellen im wind. Und wir waren, für einen moment nur, allein auf der welt.
Und vielleicht ist es nur die erinnerung gewesen an jenem abend, da ich Ihn wiedersah, solange zeit nach dieser pause am pfuhl, als jenes glücksmoment, das man liebe nennt, geboren ward', dass ich jenen moment aus samuel eins erinnerte, in dem es heißt: GEHE HIN, SUCHE DIE PFEILE! david sich aber hinter dem stein asel versteckte vor saul, des jonathan vater. So gehe hin, suche die pfeile: Das suchen nach dem moment des vergangenen, des eigenen. Und so hieß dieser stein, den wir vor grauen zeiten bewältigt und hinter dem wir uns versteckt hatten, in meiner erinnerung der aselsche. Und der junge war ein mann geworden und hatte in jenem augenblick seine kindheit verloren. Und diese liebe lag nun begraben unter dem stein, irgendwo zwischen den hügeln, nahe den salzigen wassern der see.
Dass ich Seine angenehme, ruhige stimme gerade hier vernahm, in der verräucherten bude, mehr als fünfundzwanzig jahre nach diesem frühjahr auf diesem feld der genossenshaft, die nun nicht mehr existierte, ließ für einen kleinen moment nur jenes herzklopfen wieder in mir entstehen, für welches die worte ihre unschuld verloren hatten. Und die ruhe, die einen augenblick später wieder über mich kam, überraschte mich nicht. Ich gab mich nicht preis. Ich hatte gelernt aus den fehlern dieser jahre. Und ich glaube, ich hörte Ihm gern beim reden zu. Und das KAMASUTRA war zu einer mauer erstarrt, die uns in unserer verräucherten bude umgab.
(1992)

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